Stretching Time/ Researching Collections – Temporal Morphologies and Transformation of Matter
Nina Samuel
Im Zentrum von »Stretching Time« steht die Annahme, dass in Sammlungsobjekten unterschiedliche Konzepte von Aktivität und Passivität von Materialien – Fragen nach dem Verhältnis von Zeit und Materie – verkörpert sind. Um diese kennenzulernen und zu reflektieren, wurden in verschiedenen Humboldt-Sammlungen Fallstudien durchgeführt. Dabei erwies sich die Geologisch-Geomorphologische Sammlung als besonders ergiebig. Die Auswahl der Exponate in der Vitrine und die sich verändernden und explorativen Elemente der Ausstellung sind das Ergebnis dieser Forschung und beziehen die Sinne der Besucher:innen aktiv ein.
Die Recherche und die Kuration erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem Leiter der Sammlung, dem Geologen Prof. Mohsen Makki. Ein zentrales Ergebnis der zahlreichen Besuche und Gespräche mit ihm war, dass Steine als äußerst aktives Material verstanden werden müssen. Ohne Steine gäbe es kein Leben auf der Erde. Die Plattentektonik ist eine lebenserhaltende Kraft, die den Kreislauf der Steine in Gang hält. Steine befinden sich in einem kontinuierlichen Prozess von Formgebung und Umwandlung. Sie sind kondensierte Aktivität, aber die Millionen von Jahren, die sie brauchen, um zu entstehen, zu zerfallen und sich zu regenerieren, übersteigen das menschliche Vorstellungsvermögen.
Einige der Fragen, die zum Motor der Forschungen wurden: Wie speichert Materie Zeit? Wie schnell oder langsam werden die Veränderungen von Materie sichtbar und welche Rolle spielt dies in Sammlungen? Wie verhalten sich diese Beobachtungen zu den gängigen Praktiken der Aktivierung, Passivierung und Konservierung von Objekten? Inwiefern lassen sich Steine als aktiv oder passiv betrachten? Wie verhält sich der unendliche Kreislauf der Steine zu den Veränderungen von Materie im Anthropozän? Welche Rolle spielen Steine für die Politik der Zeit? Können verwitterte Steine als eine Verkörperung der Konzepte des Erinnerns und Sammelns in Museen verstanden werden?
Umsetzung und Erfahrung
»Stretching Time« bot vier verschiedene Erfahrungsebenen: erstens die geologischen Objekte in der Vitrine, basierend auf den Recherchen in den Humboldt-Sammlungen und den Gesprächen mit Prof. Makki, zweitens die Ebene der "exhibition-in-progress" in Form von Beiträgen von Ausstellungsbesucher*innen, drittens Experimentierstationen, um das Verhältnis von Zeit und Materie haptisch zu erfahren, und viertens die virtuelle Ebene für die sinnliche Erfahrbarkeit der Steine als aktive Materie.
Ebene 1: Wie verwandelt sich Materie? Die Vitrine zeigte Aspekte aus dem Zyklus der natürlichen Aktivität von Steinen bis hin zu der Rolle, die das Eingreifen des Menschen im Leben der Steine spielt. Die Dynamik des Wetters und der atmosphärischen Kräfte sind wesentliche Akteure für den sich verändernden Zyklus der Steine und für ihre zeitliche Transformation – ein Prozess, der »Verwitterung« genannt wird. Es entstehen Morphologien der Zeit. Die Ausstellung zeigte solche Morphologien, die durch Regen, Wind, Schnee und Pflanzenwurzeln entstanden sind.
Der Stein hinten links trägt die Spuren der Windverwitterung. Je nachdem, aus wie vielen Richtungen der Wind über einen Zeitraum von Tausenden von Jahren weht, weisen solche Steine eine, zwei, drei oder mehr Kanten und glatte Oberflächen auf. Der vom Wind mitgeführte Sand sorgt für den glatten Abrieb der Steine.
Auf dem Stein vorne links sieht man die Auswirkungen der Verwitterung durch Wind und Regen – zwei verschiedene Verwitterungsprozesse, die sich nacheinander in die Oberfläche des Steins eingeschrieben haben: Zunächst hat der ständige Kontakt mit Wasser zu einer rauen Oberfläche geführt, die man spürt, wenn man in eine Richtung über den Stein streicht. Anschließend führte eine Klimaveränderung dazu, dass es lange Zeit trocken und warm war. In diesem Zeitraum von etwa tausend Jahren kam der Wind hauptsächlich aus einer Richtung, brachte Sand mit und glättete und polierte die Oberfläche. Dies spürt man, wenn man in die entgegengesetzte Richtung über den Stein streicht. Der feine Abrieb des Steins legt nahe, dass er nach der letzten Eiszeit nach Mitteleuropa gekommen sein muss.
Auf der Oberfläche des Steins in der Mitte sind chemisch-biologische Verwitterungen zu erkennen, die etwa 70 Millionen Jahre alt sind: Spuren von Würmern und Pflanzenwurzeln aus der Jurazeit, als es eine besonders üppige Flora gab. Erhalten wurde das Muster auf der Oberfläche durch Schichtbildungsprozesse, bei dem die organischen Teile zersetzt wurden, aber die Abdrücke erhalten blieben.
Der Stein auf der rechten Seite zeigt die Verwitterung durch Schneeschmelze. Hier haben Schnee, Schmelzwasser und Wind im Schatten ein klar erkennbares Muster geformt. Die feinen vertikalen Linien im Stein waren einst Risse, die durch Flüssigkeit in den Stein geätzt wurden. Durch geologische Prozesse konnten sich diese Risse jedoch im Laufe der Zeit wieder schließen.
Je nach Klimazone und mineralischer Zusammensetzung bringen Verwitterungsprozesse nicht nur eine große Vielfalt an Formen, sondern auch eine erstaunliche Vielfalt an Farben hervor. Die Zeit malt ihre Farben durch Verwitterungsprozesse in die Böden. Die Verwitterung ist für die Geologie so wichtig, dass sie sogar als Sammlungsstrategie fungiert (d.h. sie beeinflusst maßgeblich Ankaufsentscheidungen).
Geolog:innen wissen, dass Steine immer in Bewegung sind. Während sie langsam verwittern, bilden sich neue Steine – in Hohlräumen oder tief unter der Erde in Spalten wie die kristalline Wüstenrose oder Kalzit. In der Welt der Steine gibt es keinen Zersetzungsprozess ohne erneutes Wachstum. Die Zeit hinterlässt in den Steinen Risse, die durch geologische Bewegungen oder Klimaveränderungen entstanden sind. Aber diese Risse können sich durch geochemische oder mechanische Kräfte über Millionen von Jahren wieder schließen. Heute sehen wir sie als feine Linien, die auf ihre Oberflächen gemalt sind. Diesen Prozess kann man als Selbstheilungskraft der Steine bezeichnen, die sich jenseits der menschlichen Zeit entfaltet.
Doch die Zeit der Steine und die Zeit des Menschen sind zunehmend miteinander verwoben, seitdem Menschen die Erdoberfläche erheblich verändern. Der Mensch hat aus Produktionsabfällen und Industrieruinen anthropogene Böden und Gesteine geschaffen, die zum Teil hochgiftig sind. Die Böden in Berlin und in Städten im Allgemeinen sind ein Archiv der Stadtentwicklung und menschlicher Aktivitäten.
Durch die Überlagerung des natürlichen Bodens mit Substrat anthropogenen oder technogenen Ursprungs werden neue Böden geschaffen. Diese Böden haben neue Eigenschaften und werden anders klassifiziert als natürliche Böden. (Die ausgestellten Proben von Berliner Böden sind Teil eines laufenden Forschungsprojekts von Prof. Makki, für mehr Informationen: https://www.berlin.de/sen/uvk/umwelt/bodenschutz-und-altlasten/vorsorgender-bodenschutz/informationsgrundlagen-fuer-den-bodenschutz/kartieranleitung/.)
Eine historische Perspektive auf anthropogene Gesteine bietet eine Auswahl verschiedener Schlacken aus dem Mittelalter.
Seit der Bronzezeit, also seit über 6000 Jahren, haben die Menschen begonnen, neue Materialien herzustellen, z. B. Keramik. Bei diesen Prozessen entstanden neue Arten von festen Gesteinen, die Abfallprodukte der Metall-, Eisen- oder Glasproduktion waren. Diese künstlichen Gesteine bergen jedoch Gefahren, da sie auch Schwermetalle enthalten können. Vor allem bei Kontakt mit Wasser schwemmen sie gefährliche Metalle aus, z. B. Arsen oder Kadmium.
Optisch nicht zu unterscheiden ist eines der Exponate natürlichen Ursprungs. Zwischen den Schlacken ist ein vulkanisches Gestein aus Island verborgen, das rein natürlichen Ursprungs ist – optisch nicht zu unterscheiden, besteht es aus den nahezu identischen chemischen Bestandteilen, enthält jedoch keine Gifte.
Ebene 2) Durch Gespräche mit den Besuchern, durch Workshops und die Vermittlungsarbeit entwickelte sich die Ausstellung im Laufe der Zeit weiter. Die Sektion »Stretching Time« wurde vor allem um zwei Beiträge erweitert, die sich mit der Frage nach den Grenzen zwischen lebender und toter Materie befassten.
Die rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen von geologischen Prozessen von Prof. Rochus Blaschke (1930-2019) waren eine der ersten Vergrößerungen von Verwitterungsgestein, die in den 1980er Jahren in Europa hergestellt wurden.
Blaschke war Professor für Mineralogie am Institut für Medizinische Physik der Universität Münster und sein Forschungsschwerpunkt war die Alterung von Gestein und Beton. Die Vergrößerungen der Oberflächen situieren sich im Zwischenbereich zwischen dem Organischen und dem Anorganischen und erweitern damit die Frage nach der Aktivität von Steinen, indem sie auf den Bereich der wissenschaftlichen Visualisierung Bezug nehmen. Die zweite Ergänzung stammt von der Berliner Künstlerin Lena Dues.
Die Installation »Auturgy of Carbamide« bestand aus zwei Glaszylindern und einer Petrischale, die mit einer Harnstofflösung gefüllt waren. Während der Ausstellungsdauer bildeten sich durch Verdunstung Kristalle: Das Material Harnstoff baute ohne weiteres Zutun des Menschen kristalline Skulpturen und verweist so auf die in der Ausstellung thematisierte Selbsttätigkeit von Materialien. Der organische Harnstoff nimmt in der Chemie eine Sonderrolle ein, da seine künstliche Synthese aus anorganischen Rohstoffen im Labor im Jahr 1828 das Prinzip des Vitalismus, der Vorstellung, dass organische Substanzen nur von Lebewesen durch sogenannte ‘Lebenskraft’ hergestellt werden könnten, widerlegte. In Anlehnung daran hinterfragt Dues mit ihrer Intervention das Konzept einer starren Trennung zwischen unbelebter und belebter Natur und setzt diesem einen fließenden Übergang entgegen.
Die Erfahrung
Eine unserer wichtigsten Forschungsfragen der Ausstellung war, wie man die Aktivität der Materie im Raum erfahrbar und greifbar machen kann. Eine Antwort darauf und zentrale Erfahrungsebene der Ausstellung war zweifellos die Vitrine selbst, die die Besucher zu Fragen anregte und zu einer Vielzahl von Gesprächen führte: Zum Beispiel über die Perspektive der menschlichen Zeit angesichts der Zeitspannen der Geologie oder über die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Objekten und Gedächtnis. Erzählungen und Erinnerungen werden in Steinen gespeichert: entweder durch die persönlichen Geschichten ihrer Besitzer oder durch die Besonderheit ihrer Entstehung. Manche wurden durch Verwitterungsprozesse verändert, andere durch den Einfluss des Menschen. Während man Steine als tote Materie betrachten könnte, haben die Diskussionen in der Ausstellung deutlich zu Tage gefördert, dass Steine eine veränderliche, transformative und aktive Materie sind.
Aber wie kann man die Zeit physisch anfassen und die feine Oberflächenstruktur und die dichte Masse der Steine in eine Erfahrung im Ausstellungsraum übersetzen? Die Ausstellung gab zwei Antworten auf diese Frage: Erstens durch eine Einladung zum praktischen Experimentieren und zweitens durch das Aufbrechen der Grenzen zwischen der physischen und der virtuellen Welt.
In zwei Mitmachstationen lud die Ausstellung zu haptischen Experimenten ein, um das Verhältnis von Zeit und Materie zu erfühlen und die Zeitlichkeit der Objekte sinnlich zu erkunden
Die massiven Metallvitrinen in der TA T waren hier der konzeptionelle Ausgangspunkt. Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert und sollten ursprünglich die Ausstellungsobjekte vor den Besuchern und ihrer Körperlichkeit schützen: vor ihren Ausdünstungen, ihrer Berührung, ihrer Körperwärme. Bis heute ist das Objekt in Quarantäne unser Museumsstandard. In dieser Ausstellung jedoch erweitern wir den Begriff der Vitrine, indem wir sie in einen experimentellen Forschungsapparat verwandeln und die Besucher:innen einladen, mit den zeitlichen Veränderungen der Materialität und einer anderen Art von Wissen zu experimentieren – mit einem Wissen der Hand und des Tastsinns.
In der geologischen Forschung ist das sensorische Wissen von zentraler Bedeutung. Es ist zutiefst multisensorisch und eng mit haptischen, olfaktorischen und manchmal sogar gustatorischen Eindrücken verbunden. Die Geschichte der Entstehung und Zusammensetzung von Erdtypen und verwitterten Gesteinen erschließt sich Geologen oft durch Tasten, Riechen und Schmecken.
In der Haptic Box wurden die Besucher daher dazu angeregt, die Zeit zu ertasten: Sie konnten den Zerfall und die Umwandlung von Gesteinen spüren, indem sie mit ihren Fingern Sedimente verschiedener Korngrößen berührten. Am Hands-On-Tisch konnten sie Verwitterung erleben, indem sie 10-prozentige Salzsäure auf Dolomit und Kalkstein auftrugen und so in Sekundenschnelle die Auswirkungen von Regenfällen simulierten, die sonst Jahrhunderte dauern würden.
Die VR-Ebene der Ausstellung
Die zweite Antwort auf die Frage, wie die Zeitlichkeit von Steinen im Ausstellungsraum erfahrbar gemacht werden kann, ergab sich aus einer engen Zusammenarbeit mit dem Künstlerstudio Above & Below. In mehreren intensiven Gesprächen tauschten wir uns über die Forschungen in der Geologisch-Geomorphologischen Sammlung und über die Diskussionen mit Prof. Makki aus. Auf der Grundlage dieses Dialogs entwickelte Studio Above & Below das VR-Erlebnis »Geological Performers«. Die Besucher:innen konnten eine virtuelle Zeitkapsel betreten, die es ihnen ermöglichte, die dynamischen Veränderungen der Verwitterung wahrzunehmen – ein Prozess, der so langsam abläuft, dass er mit dem bloßen menschlichen Auge normalerweise nicht zu erkennen ist. In Abhängigkeit vom Berliner Wetter erlebten die Besucher:innen verschiedene atmosphärische Bereiche, die unterschiedliche Arten der Verwitterung repräsentierten und sich auf die generativen Formen und digitalen Materialien der virtuellen Steine auswirkten.
Externe Echtzeit-Wetterdaten drangen in den virtuellen Innenraum ein und verwandelten sich in Parameter wie Bewegung, Geschwindigkeit, Formen und Risse, und wurden so für die Besucher innerhalb der fantastischen Zeitkapsel lebendig. Um die Animationen in der VR zu aktivieren, mussten die Besucher einen 3D-gedruckten Stein mit einem Tracker in die Hand nehmen, wodurch die virtuelle Verwitterung der Steine in Gang gesetzt wurde.
Das Erlebnis schuf eine Sensibilität für die aktive Veränderung der Materie, die ständig um uns herum stattfindet und die Vergangenheit, die Gegenwart und die nächsten Millionen Jahre prägt: Steine um uns herum sind aktiv und lebendig.
Die zweite virtuelle Ebene zur Erfahrung der Materialität von Steinen führte uns zurück zum Hands-On Table und zu einem kleinen weißen Bimsstein in einer Schachtel, den die Besucher:innen anfassen durften. Durch den virtuellen Aufzug konnten sie in seine mikroskopische Struktur eindringen und erkunden, wie es sich anfühlt, sich im Inneren eines Steins zu bewegen.
Wie bezieht sich das Projekt auf die Ausstellung als Ganzes?
Die Recherche zu den Sammlungen bezog sich auf verschiedenen Ebenen auf die sinnlichen und zeitlichen Aspekte der Ausstellung und der anderen Projekte und fragt, wie wir in einen Dialog mit der Zeitlichkeit der Steine treten können. Besonders deutlich wurde dies im Zusammenhang mit der Wolke von Clemens Winkler, die in der zentralen Rotunde schwebte. Feuchtigkeit ist einer der Schlüsselfaktoren bei Verwitterungsprozessen. Auch die Temperatur und die chemische Zusammensetzung des Niederschlags spielen eine entscheidende Rolle. In unserer Ausstellung beeinflusste die physische Anwesenheit der Besucher direkt die Mikroebene der chemischen Zusammensetzung der Wolke. Je mehr Besucher die Rotunde des TA T durchschritten, desto mehr menschliche Partikel wurden Teil der Wolke. Wenn die Feuchtigkeit in der Wolke einen Verwitterungsprozess in einem Stein auslöst, wird dann auch der Besucher Teil dieser Verwitterung – oder des Steins selbst? Wie lässt sich die Zeitspanne fassen, in der die Körperlichkeit des Besuchers und des Steins zusammenkommen – und wie verhält sich dieser Prozess zur Zeit des Anthropozäns und zu den vom Menschen geschaffenen Felsen? Das Ziel von »Stretching Time« war es, immer wieder neue Fragen zu ermöglichen und keine endgültigen Antworten zu geben.
Ausblick
Die grundsätzliche Frage nach dem Ausstellen als Forschungsmethode ist eines der zentralen Anliegen der Forschungsgruppe Object Space Agency, das auch in der zweiten Arbeitsphase (2023-25) im Mittelpunkt stehen wird. Insbesondere die Erforschung der Aktivität und Passivität von Sammlungsobjekten – mit dem Fokus auf Konservierungsmethoden – wird im Teilprojekt von Nina Samuel weiter bearbeitet. Als Fortsetzung der Ausstellungsdiskurse ist für 2023 ein Workshop zum Thema Wasser als einzigartiges Element der Konservierung geplant.