On Activity
A Joint Symposium on Activity and Materiality
Das Symposium am 7. Februar ging von der anhaltenden Revolution im Verständnis von Materie und Aktivität in den Naturwissenschaften aus und stellte dabei die Antworten der Geisteswissenschaften in den Mittelpunkt. Die Veranstaltung wurde gemeinschaftlich von den Projekte Weaving und Symbolic Material ausgerichtet.
Die naturwissenschaftliche Forschung zu ›active matter‹ hat in den letzten Jahrzehnten erheblich an Bedeutung gewonnen und reicht heute in diverse Disziplinen (Chemie, Biologie, Physik und v.a. Materialwissenschaften) hinein. Der Fokus auf der Aktivität organischer und anorganischer Materialien hat dabei ›en passant‹ auch wesentliche Konzepte verändert, die über die Naturwissenschaften hinaus Bedeutsamkeit besitzen, so zum Beispiel die Konzepte Materie, Leben, Selbstbewegung, Selbstorganisation und Selbststeuerung. Es verwundert daher nicht, dass sich parallel zu der Entwicklung in den Naturwissenschaften auch eine Entwicklung und Verschiebung der Perspektiven in den Geisteswissenschaften identifizieren lässt, die mit anderen Diskursen und Objekten, aber vergleichbarer Problemstellung nach der Emergenz und Transition von Strukturen fragt und vor allem Objekte über ihre Austauschprozesse, also über ihre situativen Bedingungen und damit ihre Umwelten definiert. Die Konferenz ›On Activity‹, organisiert von Michael Friedman und Karin Krauthausen (beide Humboldt-Universität zu Berlin), ging von dieser Diagnose aus und konzentrierte sich dabei in Teilen auf eines der berühmtesten Objekte der ›active matter‹-Forschung: den sich selbst organisierenden, sie selbst steuernden, spontan emergenten Schwarm. Diese biologische Kollektivform war durch die Geschichte hindurch immer wieder Anlass für naturkundliche und philosophische Überlegungen sowie für Projektionen aus dem Bereich des Sozialen bzw. des Anthropos. Sylvie Kleiman-Lafon (Université Paris 8) illustrierte in ihrem Vortrag diese lange und vielfältige Historie am Beispiel des Bienenschwarms (bzw. des Bienenstaates) mit Quellen des 18. bis ins 21. Jahrhundert: von Georges-Louis Leclerc de Buffons »Discours sur la nature des animaux« (1753, als Band IV der »L'Histoire naturelle«) bis zur englischen Fernsehserie »Black Mirror« (seit 2011 fünf Staffeln). Ihr Vortrag führte nicht nur die wechselnde Interpretation dieses biologischen Objekts vor Augen, sondern auch dessen topische und analogische Dienstbarkeit für die Begründung politischer und sozialer Ordnungen.
Die Verbindung des Schwarms mit dem Konzept ›Einheit‹ sowie schließlich auch ›System‹ und damit die Spannung zwischen vitalistischen (am Lebensbegriff orientierten) und mechanistischen bzw. schließlich kybernetischen und energetischen Erklärungen verfolgte Charles Wolfe (Università Ca'Foscari) am Beispiel der Vorgeschichte der Biologie im 18. Jahrhundert – u.a. bei Dénis Diderot, Jean-Baptiste le Rond D'Alembert, Pierre Louis Moreau de Maupertius (bzw. Dr. Baumann) und Jean-Jacques Ménuret de Chambaud –, aber auch mit komplementären Ausführungen zur Biologie des 20. Jahrhunderts bei Ludwig von Bertalanffy. Diese ideengeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Ausführungen wurden am Nachmittag von Christian Reiß (Universität Regensburg) kenntnisreich ergänzt durch die Rekapitulation der sogenannten theoretischen Biologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrer Suche nach nicht-mechanistischen Ontologien – Bertalanffy war ein wichtiger Protagonist in dieser Bewegung.
Die Frage nach dem Konzept ›Aktivität‹ wurde auf der Konferenz jedoch auch jenseits des Schwarm-Topos beantwortet und dies sowohl in zeitlicher wie in thematischer Hinsicht. Horst Bredekamp (Humboldt-Universität zu Berlin) begann die Serie der Vorträge mit einer neuen und inspirierenden Auslegung von Gottfried Wilhelm Leibniz, indem er dessen metaphysisches Konzept des ›Agens‹ als Theorie von der Aktivität der Materie, des Raums und des Bildes vorstellte und damit den Rahmen für viele weitere Diskussionen an diesem Tag lieferte.
Von dieser Theorie des ›Raumakts‹ und des ›Bildakts‹ ging es mit dem Vortragenden Stephan Kammer (Ludwig-Maximilian-Universität München) zum ›Wortakt‹ über und dabei zeitlich weit vor das 17./18. Jahrhundert zurück: zu den Anfängen der überlieferten Rhetorik und den erstaunlich modernen Auffassungen des Rhetors und Philosophen Gorgias von Leontinoi (ca. 480-380 v.Chr.). Die Vorträge der Konferenz hatten sich vorgenommen, die lange Geschichte des Konzepts ›Aktivität‹ an markanten Beispielen und auch heute noch anschlussfähigen Theorien vorzustellen. Diese vorwiegend historische und philosophische, also eher geisteswissenschaftliche Perspektive wurde am Ende der Konferenz intelligent gespiegelt durch den Vortrag der beiden Molekularbiologen Sonia Dheur und Sven Saupe (CNRS, Université de Bordeaux). Beide erläuterten die Bedeutung der Proteinforschung für das Verständnis des Lebens als Aktivität, aber nahmen ihren Ausgang dabei ausgerechnet in der Philosophie: den Überlegungen von Gilles Deleuze und Félix Guattari.
Der Philosoph und der Psychoanalytiker hatten in ihren Publikationen wiederholt auf die Forschungen zur Genetik Bezug genommen, aber diese in ihrem eigenen ambitionierten Theorierahmen neu ausgelegt. Mit den beiden Vortragenden aus der Molekularbiologie wurden diese hochspekulativen Positionen der beiden Autoren nun am Ende durch die Naturwissenschaften ›faktualisiert‹.
Die Konferenz »On Activity« versammelte ein vielfältiges Wissen über das Konzept ›Aktivität‹ und zeigt damit in der Summe auch auf, dass der Begriff der Aktivität letztlich nicht auf den Begriff zu bringen ist. Der Grund hierfür liegt im Material der Sprache selbst: Der Begriff entfaltet seine Wirksamkeit als Konzept in den wechselnden historischen und disziplinären Kontexten nicht zuletzt deshalb, weil ihm – wie jedem Begriff – die eigene Dynamik der Sprache eingeschrieben ist. Für die Sprache hatte der Linguist Roman Jakobson – der selber ein Grenzgänger zwischen Natur- und Geisteswissenschaften war – schon 1933/34 formuliert, dass ihr Potential zur Orientierung eben nicht an Logik und Eindeutigkeit, sondern an der ihr notwendig eigenen Ambiguität hängt, da nur diese Ambiguität der Sprache die Anpassung an wechselnde Umwelten ermöglicht:
»Doch wozu dies alles? [...] – Deshalb, weil neben dem unmittelbaren Bewußtsein der Identität von Zeichen und Gegenstand (A gleich A1) auch das unmittelbare Bewußtsein der unvollkommenen Identität (A ungleich A1) notwendig ist; diese Antinomie ist unabdingbar, denn ohne Widerspruch gibt es keine Bewegung der Begriffe, keine Bewegung der Zeichen, die Beziehung zwischen Begriff und Zeichen wird automatisiert, die Aktivität kommt zum Stillstand, das Realitätsbewußstein stirbt ab.«
Roman Jakobson: »Was ist Poesie« [tschech. Original 1933/1934, dt. zuerst 1970], in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt am Main 2016, S. 67–82, hier S. 79 [leicht veränderte Übersetzung, die dem Original näher kommt: ›Aktivität‹ statt ›Geschehen‹].
Diese Diagnose ist kein fatales Diktum, sondern der Hinweis auf ein Potential: Auf dem Konzept der ›Aktivität‹ lässt sich gerade in seiner Bedeutungsvielfalt aufbauen.
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