Illiterat im Reich der Zeichen
Bericht über internationale Konferenz zu Schrift und Graphismus an der Universität von Osaka
Konferenzbericht von Karin Krauthausen
Schriften sind keine passiven Werkzeuge, denn Schriften haben ein Eigenleben: Sie konfigurieren unser Denken und Entwerfen – und entwickeln ihr Arsenal an Möglichkeiten und Beschränkungen dabei unablässig weiter. Ganz offenkundig gilt das für mathematische Schriften und Programmierschriften, mit deren Hilfe abstrakte Welten entwickelt und eingerichtet werden, die dann unsere Wirklichkeit bestimmen. Aber es gilt eben auch für Schriften, die an der menschlichen Sprache orientiert sind und kommunikative Funktionen übernehmen, also gesellschaftliche Aushandlungen und Imaginationen vermitteln (ob als Ritus, Gesetz, Nachrichten, Werbung oder Literatur). Schriftsysteme ermöglichen nicht nur ein Verständnis der Welt, so wie wir sie kennen, sondern sie motivieren und begleiten den materialen Eingriff, durch den Menschen diese Welt unablässig verändern. Womit Schrift beginnt oder aufhört, wie ihr Aktivitätspotential funktionalisiert wird und welche Rolle der Aufzeichnungs-Code – also Alphabetschrift (wie in vielen westlichen Schriften), Logographie, Silbenschrift oder Konzeptschrift (wie bei den japanischen und chinesischen Schriften) – hierfür spielt, war Gegenstand der Konferenz Die Schreibszene zwischen Schrift und Graphismus, die am 8. und 9. April 2025 an der Universität von Osaka stattfand und von Johannes Waßmer in Zusammenarbeit mit Kotaro Yoshida (beide Osaka University) und Tobias Schickhaus (Meiji University, Tokyo) organisiert wurde. Diskutiert wurde dort unter anderem über die konkrete Poesie in Japan, deren graphischer Einsatz der japanischen Schrift Dynamiken zwischen Sprache und Bildlichkeit in Gang setzt, die sich von den Experimenten der deutschsprachigen konkreten Poesie deutlich unterscheiden, aber von der japanischen Werbegraphik aufgenommen wurden (klug aufgezeigt wurde dies von Keisuke Takayasu – Abb. 1). Auch die westliche Aneignung und fehlerhafte Interpretation asiatischer Schriften als Bilderschrift bei und nach Athanasius Kircher war Gegenstand einer erhellenden Gegengeschichte, die Kotaro Yoshida entwickelte. Schließlich ging es aber auch um den Nullpunkt der Schrift: Dies zum einen am Beispiel von Hölderlins Federproben und deren editionsphilologischer Transkription (Stephan Kammer gewährte hier Einblicke in die Zwangslektüren vermeintlicher Schriftzeichen) und zum anderen in Form einer künstlerischen Intervention und Erkundung drängender Unlesbarkeit (durch die Schrifterfindungen des Berliner Schriftkünstlers Axel Malik – Abb. 2). Für die Gäste aus Europa, die größtenteils kein Japanisch sprachen, war aber der gesamte Aufenthalt in Osaka (und die die Konferenz begleitenden Arbeitstreffen) bereits eine intensive Erfahrung mit der Aktivität der Schrift: Bewegt man sich derart illiterat durch das ›Reich der Zeichen‹, dann wird die eigene Intentionalität immer wieder stillgestellt; fasziniert schaut man zu, wie ›die anderen‹ sich geschmeidig durch den öffentlichen Raum bewegen, in dem man selbst nur noch ein Störmoment und der eigentliche ›andere‹ (oder gar ein Barbar?) ist. Was bleibt, sind die gnädig eingestreuten Alphabet-Transkriptionen auf den Schildern im Stadtraum und der digitale Navigator auf dem Handy, dessen Anweisungen man getreu folgt. Oder man schaut einfach und genießt den Nullpunkt der Schrift, ihren reinen Graphismus, der alles einhüllt: I do not understand – Japan. (Abb. 3)