Stretching in die Virtualität
Christian Stein
In Matters of Activity beschäftigen sich Forscher:innen aus zahlreichen Disziplinen mit der Frage nach dem, was Material ist, wie wir Material betrachten, mit ihm umgehen und nicht zuletzt, wie wir als menschliche Akteure mit dem Akteur Material in einen Dialog treten können. Das Modul »Stretching into Virtuality« der Ausstellung Stretching Materialities versucht, diese Fragen in einen virtuellen Erlebnisraum zu übersetzen, den es so noch nie gegeben hat. Virtualität wird dabei als ein Material ganz eigener Art verstanden, geknüpft aus den Strukturen des Digitalen, übersetzt in sinnliche Wahrnehmbarkeit und gebaut aus verbundenen Ebenen von Hard- und Software. Dabei ist das Virtuelle weniger als ein Addendum gedacht, wie dies so häufig in musealen Kontexten geschieht, sondern als integraler Layer der gesamten Ausstellung, der sich über andere Exponate legt, an ihnen entlang hangelt und so Berührungspunkte, Erweiterungen, Perspektiven und Schnittstellen schafft.
Geschaffen wurde ein System mit mobilen Virtual Reality Headsets, die von den Besucher:innen mitgenommen und aufgesetzt werden können. Der kreisrunde Raum der Rotunde des Tieranatomischen Theaters wurde dazu exakt virtuell nachmodelliert und legt sich über den physischen Raum. Um eine exakte Ausrichtung zu ermöglichen, wurden in Eigenkonstruktion spezielle Laserpointer auf den VR-Headsets montiert, die eine Kalibrierung des virtuellen Raums ermöglichen. So entsteht ein gedoppelter Raum: Der Gang durch die physische Ausstellung trägt immer auch einen virtuellen Layer mit sich, der Wechsel zwischen den Ebenen gehört zum Ausstellungsbesuch. Dieses innovative Setting ist für den musealen Betrieb einzigartig und ermöglicht ein völlig anderes, spatiales Eintauchen in den Ausstellungsraum. Wände und Objekte, die im Virtuellen sichtbar sind, können nicht nur gesehen, sondern auch ertastet und gefühlt werden - denn da, wo sich beispielsweise eine virtuelle Säule befindet, liegt eine physische dahinter.
Zentrale Gestaltungsidee der virtuellen Ebenen ist eine historische Perspektive: Im Zentrum der Rotunde befand sich im 18. und 19. Jahrhundert ein historischer Aufzug, der Pferdekadaver von den Präparationsräumen nach oben ins Anatomische Theater brachte, um sie dort vor Fachpublikum zu demonstrieren. Dieser im Rahmen der Renovierungsarbeiten rückgebaute Aufzug wird im virtuellen wieder benutzbar. So wurde im Zentrum des Ausstellungsraums eine Plattform aufgebaut, die begehbar ist und den Schritt in den Aufzug repräsentiert. Mit Druck auf den virtuellen Schalter setzt sich dieser - mit darunter angebrachten Vibratormotoren spürbar gemacht - in Bewegung. Je nach ausgewählter Etage gelangt die Besucher:in aber nicht nur in den auch physisch darüberliegenden Theaterraum, sondern in eine von sechs Etagen, die die Aktivität von Material je auf eigene Weise sichtbar machen. Die sechs Etagen sind:
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Beim Start ein Abbild der Rotunde selbst, mit der Möglichkeit, Objekte des Ausstellungsraums, wie das Rattangeflecht zu finden, zu ertasten und zu begehen.
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Eine Ebene des darüberliegenden Theateraums mit sechs riesigen schwebenden Objekten, die die Forschungsthemen Aktiver Materie des Exzellenzclusters repräsentieren
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Eine Ebene der Verwitterung, in der riesige Steine ihre Veränderungsprozesse über Jahrhunderte in Sekunden gerafft zeigen und erfahrbar machen
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Ein CT-Scan eines Steins, der ebenfalls Teil der Ausstellung ist. Auf ein Mikromaß verkleinert findet sich die Besucher:in im Inneren des Steins, dessen Hohlräume so wie eine riesige Höhlenlandschaft erscheinen.
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Eine interaktive taktile Dimension, in der die Berührung und Veränderung großer abstrakter Objekte taktil mithilfe von Vibrationsmotoren auf die Besucher:innen übertragen wird
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Eine Dimension im Inneren der Wolke, die über der Aufzugsplattform schwebt, auf Kleinstmaß verkleinert erlebt die Besucher:in Wolkenpartikel und Strukturen, die Wolken entstehen lassen
Im Erforschen und Erleben dieser Dimensionen, im zunächst noch tastenden und unsicheren erforschen des Virtuellen, wird nach und nach die Aktivität der Materie zum Erlebnisraum: Ein Raum, der weniger Antworten gibt, als Fragen auslöst, zeigt, anstatt zu erklären und zur Diskussion, zum Nachdenken und wundern einlädt. Ganz im Sinne einer Ausstellung des Prozesses, in der der Dialog das Ziel ist und weniger die Erklärung, wurde die installation während der Ausstellungszeit verändert und erweitert und bewahrt sich ihre strukturelle Erweiterbarkeit bis in studentische Projekte, andere Forschungsarbeiten und eine (geplante) Verlegung der Ausstellung nach Buenos Aires hinein.